Klassischer Musiker
Inhalt
Anfänge und erste Studien in Kirchenmusik und Musikpädgogik
Für einen professionellen, klassischen Musiker bin ich, verglichen mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen, erst relativ spät zum Instrument gekommen, nämlich erst mit 12 Jahren. Das hieß, dass ich mich besonders ins Zeug legen musste, aber am Ende war dies kein Hindernis, meine Ziele zu erreichen. Nachdem ich während der Gymnasialzeit vor allem autodidaktisch tätig war, nahm ich auch vereinzelt Privatunterricht in Orgel und Klavier und bestand dann 1981 die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule des Saarlandes und startete als Erstes mein Kirchenmusikstudium. Eigentlich war Andreas Rothkopf damals schon als Orgelprofessor vorgesehen, aber er nahm noch eine Studienzeit in Paris bei Marie-Claire Alain und so bekam ich während meiner ersten beiden Semester meinen Orgelunterricht von Wolfgang Trost, der die Vertretung für Andreas übernahm.
Nach vier Semestern bestand ich auch die Aufnahmeprüfung für die Musikpädagogik, um das Kirchenmusikstudium fachgerecht zu ergänzen. 1985 legte ich mein B-Examen ab (damals so genannt), 1986 das Diplom als Musiklehrer.
Ab 1986 hatte ich dann auch meine erste hauptamtliche Anstellung an der Marienkirche in Neunkirchen, wo ich immerhin bis 2001 blieb. Die Orgel dort, speziell in diesem wunderbaren Kirchenraum, hatte mich extrem fasziniert und es gab in den folgenden 15 Jahren eine ganze Menge toller Konzerte. Ich gründete den „Neunkirchener Orgelzyklus“ mit 2 x 4 Konzerten pro Jahr, wo viele meiner Studienkollegen aber auch internationale Künstler auftraten. Besonderes Highlight war ein Konzert mit Mitgliedern des Saarländischen Staatsthaters, wir führten zusammen das „Konzert für Orgel, Streicher und Pauken“ von Francis Poulenc und das Orgelkonzert in g-moll von Rheinberger auf.
An der Musikhochschule Saarbrücken spielte man zu dieser Zeit hauptsächlich Bach und die großen deutschen Romantiker, insbesondere Reger. Ich war praktisch der erste Student, der sich wagte, in einem Konzert einige der „Pièces de Fantaisie“ von Louis Vierne zu spielen, das dürfte 1983 oder 1984 gewesen sein. Danach kam ein Kollege eines höheren Semesters zu mir und sagte (wörtlich): „Was spielst du denn da für einen Scheiß? Kannst du keinen Reger spielen, das ist wenigstens richtige Musik!“ Das war damals der Stand, Vierne galt als „Kirmesmusik“, sowas spielte man nicht. War mir egal, 1988 nahm ich dann auch meine erste Schallplatte auf (keine CD, eine Schallplatte!), die mit dieser Kirmesmusik gefüllt war: Vierne, Dupré, Duruflé und natürlich Franck. Das war übrigens die erste Produktion von Christoph Martin Frommen, der heute mit seinem Label Aeolus weltbekannt ist. Wir kauften damals in gemeinsamer Finanzierung extra einen SONY-PCM-Prozessor, um die Aufnahme digital auf Video-Band tätigen zu können. Wenn Sie möchten, können Sie sich die komplette Schallplatte hier anhören.
Konzertreife-Diplom & Studium in Paris
Nach meinem Pädagogik-Diplom gingen die Studien natürlich weiter, quasi berufsbegleitend, und zwar in der Meisterklasse von Prof. André Luy, woraufhin ich 1988 mein Konzertreife-Diplom im Fach Orgel ablegen konnte. Die Zeit in der Meisterklasse von Prof. Luy war fantastisch; im Gegensatz zu den Grundstudien vorher, während denen es galt, alle möglichen Studieninhalte theoretischer Natur zu verinnerlichen, war die Zeit als Meisterschüler von endlosem Üben erfüllt. In dieser Zeit konnte ich mein Repertoire beträchtlich erweitern.
Die Arbeit mit André Luy war für mich eine Offenbarung, ich liebte seine Art zu spielen und er hat mir sehr, sehr viel an Interpretationsvermögen in diesen beiden Jahren vermittelt. Es war mir eine besondere Freude, dass er in dieser Zeit auch einmal einen Orgelabend an meiner Roethinger-Orgel in Neunkirchen gab; dieses Konzert, in dem er unter anderem die Symphonie von Augustin Barié spielte, werde ich wohl nie vergessen.
André Luy hatte einen sehr charakteristischen Haarwuchs, er mochte es nicht, den Friseur zu besuchen und deshalb hatte er teilweise Haare bis fast auf die Schultern, was zusammen mit seinem immer fröhlichen, quirligen Auftreten für eine äußerst inspirierende Persönlichkeit sorgte. Es war immer eine Freude, mit ihm zu tun zu haben. Er ist 2005 verstorben.
Mit dem Konzertreife-Diplom 1988 gab ich mich noch nicht zufrieden, es gab noch zuviel, was erlernt werden musste, um als Konzertorganist wirklich gut zu werden. Es ist immer wichtig im Leben, jemanden zu haben, der einiges viel besser kann als man selbst, nur so lernt man dazu. Umso mehr freute ich mich, dass ich mich am Conservatoire d’Issy-les-Moulineaux in Paris einschreiben durfte, um bei Maître Daniel Roth, dem Titularius der weltberühmten Pariser Kirche Saint-Sulpice, in die Lehre zu gehen. Abgesehen davon, dass Daniel Roth selbst ein bemerkenswerter Lehrer für mich war, bestand die Ehre natürlich auch darin, mit dem Nachfolger von Louis James Alfred Lefébure-Wély, Charles-Marie Widor und Marcel Dupré an dieser Kirche zu arbeiten. Zudem wurde ich durch diese Lehre Enkelschüler meines bewunderten Maurice Duruflé, den ich bis heute unendlich verehre.
Das Studium bei Maître Roth in Paris belief sich ausnahmslos auf Einzelunterricht, den wir jeweils in 2 Unterreichtseinheiten alle 14 Tage zusammen fassten. Ich war also über ein anderthalbes Jahr lang alle zwei Wochen für einen Tag in Paris. Morgens um 8 fuhr ich mit dem Zug in Saarbrücken ab und befand mich um Punkt 12 am Gare de l’est in Paris. Der Unterricht fand um 17 Uhr in Montmartre statt, so dass ich jedesmal ein paar Stunden Zeit hatte, mir eine der unzähligen Sehenswürdigkeiten von Paris anzusehen. Die übrigen Mitglieder der Meisterklasse wohnten zu dieser Zeit natürlich alle in Paris, das waren Mami Sakato aus Japan, Ines Maidre aus Estland und Jostein Aarvik aus Norwegen. Wenn wir ab und an abends am Montmartre zusammen saßen, war den dreien immer peinlich, dass sie nie die Zeit fanden, sich etwas von Paris anzusehen, obwohl sie dort wohnten; in der Hinsicht hatte ich die Nase vorn.
1990 konnten wir alle, jeder von uns mit der besten Bewertung, unseren Studienabschnitt bei Daniel Roth abschließen. Es war eine unglaublich erlebnisreiche Zeit für mich, auch so ein bißchen anstrengend, weil ich eben gleichzeitig noch meine hauptamtliche Stelle in Neunkirchen bedienen musste.
Kantorenexamen (A-Prüfung) in Karlsruhe
Aber das war durchaus noch zu toppen, nämlich, indem ich noch einen letzten Abschluß machen wollte. Das war das Kirchenmusik-A-Examen, die Prüfung, die die Voraussetzung für die richtig interessanten Stellen war und ist. Ich denke, heute ist das der Master-Abschluss. Ich legte die Aufnahmeprüfung für den Studiengang an der Musikhochschule Karlsruhe ab und bekam auch einen Studienplatz. Das folgende Studium war wirklich nicht einfach für mich, weil es mit der gleichzeitigen, ganzen Anstellung in Neunkirchen so richtig intensiv wurde. Ich musste wenigstens 3-4 mal pro Woche von Neunkirchen nach Karlsruhe, teilweise inklusive einer Übernachtung. Außerdem war ich aufgrund meiner bereits vorangegangenen Studien deutlich älter als meine Studienkollegen. Manchmal hielten sie mich für einen Teil des Lehrkörpers, was mir recht peinlich war. In Karlsruhe fehlte die Caféteria, die es in der Saarbrücker Hochschule zuvor gab, deshalb kam dort das kollegiale, freundschaftliche Leben etwas zu kurz. Aber ich hatte ohnehin wenig Zeit.
Es war eine ganz lustige Zeit in Karlsruhe, wenn auch mein Professor dort, Andreas Schröder, meinte, mir nicht mehr soviel beibringen zu können. Aber der Unterricht in Chorleitung und Orchesterleitung dort war hervorragend; richtig ausgedehnt in Einzelunterricht, Gruppenunterricht und praktischen Übungen mit Ensembles. Ich weiß nicht, wie es heute in Saarbrücken ist, aber zum damaligen Zeitpunkt war es ein klarer Vorsprung, Dirigieren in Karlsruhe studieren zu können. Und das Fach „Improvisation“ war in Karlsruhe bestens organisiert und außerordentlich kultiviert; bei meinem Lehrer Egidius Doll lernte ich eine Menge in dieser Disziplin, die auch Hauptfach, bzw. natürlich auch Prüfungsfach im Examen war.
Zu den Highlights dieser beiden Jahre gehörte ein Gedenkabend für Jehan Alain, den die GdO organisierte, wo ich als Solist mit Alain-Werken glänzen durfte. Weiterhin führte der Hochschulchor (ziemlich stark) das großartige Werk „De Profundis“ von Marcel Dupré in Brühl auf, wobei ich nicht nur den schwierigen Orgelpart übernehmen durfte, der den Chor begleitet, sondern auch noch – weil es ja um Dupré ging – noch die „Trois Préludes et Fugues“, op. 7 solistisch aufführte. Es gab auch noch einen Hochschulwettbewerb, den ich gewann. Mein A-Examen konnte ich 1992 mit Bravour ablegen und hatte damit von Hochschulen und Studien endgültig die Nase voll.
Berufsleben contra Dienstleistung
Die folgenden Jahre verbrachte ich mit meiner Stelle in Neunkirchen und mit – wie die Organisten zu schreiben pflegen – „zahlreichen Konzerten im In- und Ausland“ :-), bis ich an St. Marien im Jahr 2001 meine Kündigung einreichte. Das hatte verschiedene Gründe, der wichtigste war, dass ich mich selbstständig machen wollte, was meinem Charakter sowieso am besten entspricht. Ich hatte schon während des Studiums in Saarbrücken sozusagen studienbegleitend Kenntnisse in der Tonproduktionstechnik angeeignet und mir ein recht ansehnliches Tonstudio aufgebaut. Es gab Anlass, diesen Zweig weiter auszubauen. Außerdem empfand ich die Ansprüche, die in Neunkirchen an mich gestellt wurden, nicht mehr herausfordernd genug. Es gab einfach zu viele Beerdigungen und, was noch schlimmer war, sehr viele Hochzeiten, bei denen ich dienstmäßig verpflichtet war, mit einer Vielzahl völlig talentfreier Menschen zu musizieren, bzw. es zu versuchen, wobei ich immer öfter die Contenance verlor. 5.739 mal das Bach/Gounod-Ave Maria absolut fehlerhaft und nahe oder gar jenseits der Schmerzgrenze aufführen zu müssen, ging über meine Kräfte. Ich habe, was ich so lese, das Gefühl, „dieses“ Ave Maria ist heutzutage durch „Hallelujah“ von Leonard Cohen ersetzt, was ich noch viel grauenhafter finde. Die Lektüre von Stephen Kings furchteinflößendsten Kurzgeschichten nimmt sich dagegen aus wie ein Kinderbuch, das Grauen insgesamt betreffend.
Das absolute Highlight im negativen Sinne war ein junger Mann, der bei einer dieser unzähligen Hochzeitsveranstaltungen neben meinem Spieltisch stehend fortwährend in ein Stofftüchlein schniefte, von einem Bein aufs andere schaukelte und zwischendurch einzelne Wortfetzen des „Ave Maria“ zwischen den Lippen in einer Art säuselndem Gejammer hervor presste. Das klangliche Ergebnis konnte weder mit Gesang, noch mit dem „Ave Maria“ und schon gar nicht mit irgendeiner Art musikalischer Darbietung in Zusammenhang gebracht werden. Ich konnte es gerade so überleben, ohne von Lachkrämpfen geschüttelt von der Empore zu fallen. Aber dazu war es letztlich zu grauenhaft, erschreckend und gar nicht zum Lachen.
Noch eine denkwürdige Begebenheit will ich erzählen. Ende der 80er-Jahre war die MIDI-Technik schon sehr verbreitet und bei einer Hochzeit tauchte aus dem Nichts ein Mensch auf, der begann, vorne im Altarraum einen Atari-Computer nebst eines Yamaha-Soundmoduls zu installieren, soundtechnisch gekrönt von zwei minderwertigen Plastiklautsprechern. Auf meine Frage hin, was er da zu tun gedenke, erläuterte er mir, dass er der Bruder des Bräutigams sei und ihm zuliebe einige musikalische Darbietungen zum hochzeitlichen Geschehen beisteuern wollte. Meine Tätigkeit als Organist konnte sich deshalb auf die Begleitung zweier Gesänge und Ausharren während des Treibens beschränken. Während des Trauungstrauerspiels musste ich all meine Kraft zusammen nehmen, um nicht laut heulend draußen im Nebel zu verschwinden. Die Krönung war allerdings die „Musik“ zum Auszug des frisch vermahlenen Paares. Als die Schauerstunde vorbei war, kam mein guter Pfr. Johann Weber zu mir und sagte: „Sagense ma, Herr Keller, das Lied da beim Auszug, das klang wie ‚Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm.'“ Meine lapidare Antwort war: „Das war ja auch ‚Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm.'“ Für den Anlass total passend, und wie!
Das war eben nicht meine Welt, 15 Jahre waren genug.
Hugenottenkirche und die USA
Trotzdem übernahm ich von 2005 bis 2009 die nebenamtliche Anstellung als Organist an der Hugenottenkirche in Ludweiler/Warndt. Das tat ich aus einem einzigen Grund: in der Hugenottenkirche stand eine historische Orgel, erbaut von Stumm 1857 und 1998 von Rainer Müller äußerst fachkundig und stilecht restauriert. Das Instrument ist ein Kleinod an Orgel und es war eine Freude dort Organist zu sein. Die grauenerregenden Hochzeitsalbträume wurden mir dort weitgehend erspart.
Wir gründeten einen Förderverein für die Orgel und Konzerte mit ihr, woraufhin ich dort so einiges an hochkarätigen Konzerten organisieren konnte. Die spektakulärsten Konzerte waren zwei, eines mit Wolfgang Seifen, dem berühmten Berliner Improvisator und das andere mit Donald MacKenzie, einem begnadeten Kino-Organisten aus London. Donald improvisierte live zu dem Stummfilm „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich WIlhelm Murnau. Dieser Film ist extrem interessant, weil er für die Zeit, als er gedreht wurde (1922), schon eine beeindruckende, cinematische Bildsprache benutzt. Außerdem geht das Gerücht um, dass der Hauptdarsteller Max Schreck tatsächlich ein echter Vampir war. Natürlich habe ich an der Orgel auch eine CD aufgenommen, die ich noch heute gerne höre.
Die Stumm-Orgel der Hugenottenkirche ist ein außergewöhnliches Instrument, das – obwohl nicht sehr groß – einen äußerst runden, ausgeglichenen und geradezu betörenden Klang hat. Sie ist nicht einfach zu spielen, fast schon anstrengend, weil sie ohne elektrische Teile auskommt und die Mechanik etwas rau anmutet. Es gibt sogar noch die Möglichkeit, einen Kalkanten einzusetzen, der bei Stromausfall den Windbalg bedienen kann. Dazu existiert auch ein sogenannter „Kalkantenzug“, mittels dessen man von der Orgel aus ein Orgelpfeifchen beim Balg erklingen lassen kann, damit der Kalkant das Signal erhält, loszutreten.
Leider wird die Orgel inzwischen kaum noch gespielt, es finden in der Kirche nur noch selten Gottesdienste statt. Ich weiß nicht, in welchem Zustand sich die arme Orgel heute befindet.
In die Zeit in Ludweiler fielen auch meine ersten Konzerte in den USA, 2008 hatte ich meinen ersten Auftritt als Gastorganist an der First Presbyterian Church in Mobile, Alabama. Dort war ich auch einige Jahre später noch einmal, um erstens einen Orgelabend zu spielen und am Folgetag den Konzertchor dort mit Duruflés Requiem zu begleiten. Bei einer der Konzertreisen, auf denen mich meine Frau dankenswerter begleitete, starteten wir unten in Florida, dann ging es weiter über New York und Philadelphia, wo wir uns die Freiheitsglocke und die Unabhängigkeitserklärung ansehen konnten, bis hoch an den Lake Michigan, wo ich in Grand Rapids konzertieren durfte. Das Tolle bei all den Konzerten in den USA war die vollkommen andere Kultur hinsichtlich des gesamten Umgangs mit dem Gastkünstler, der Wertschätzung, die man als Person und mit seiner Darbietung erfährt und der nahe Kontakt zum Publikum, irgendwie anders als beispielsweise in Deutschland.
Bei all meinen Konzerten gab es im Anschluss immer eine sogenannte „Reception“, eine kleine Party, zu der das Publikum eingeladen war, um bei ein bißchen Knabberzeug und Getränken zusammen zu bleiben. Dort ergaben sich stets sehr schöne Gespräche. Die Konzerte dauern auch ungleich länger als die in Europa, meistens gibt es zwei Teile zu ca. 50 Minuten, die durch eine 15-minütige Pause getrennt sind, und danach natürlich Zugaben.
Ein unvergessliches Erlebnis hatte ich in Florida, die Kirche war proppenvoll und ich fing nach dem Schlußapplaus eine Zugabe an, ein kleines Stück eines englischen Komponisten. Plötzlich, auf der ersten Seite kam mir eine Idee: ich leitete das Stück in eine Improvisation über und begann, in einzelnen Paraphrasen die amerikanische Nationalhymne herzuleiten und zu entwickeln, das bei ständigem Crescendo und bewegterem Spiel. Irgendwann kam ich an den Punkt, dass ich die Hymne in ihrer Originalmelodie mit dem vollen Werk der Orgel zu Gehör brachte. Die Zuhörer sprangen auf und legten ihre rechte Hand auf die Brust um standesgemäß ihrem Nationalstolz zu huldigen. Damit hatte ich jetzt nicht direkt gerechnet, aber es trieb mir abwechselnd kalte und heiße Schauer über den Rücken, denn so etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Tosender Applaus und Standing Ovations waren die Folge, erst recht die Dankesworte im Anschluß bei der Reception:“You’re coming from across the sea to play our anthem, you made us so happy!“. Das meine ich mit „In den USA ist es anders.“
Mettlach
Durch die berufliche Situation meiner Frau, Jarmila, bedingt, zogen wir im Jahr 2009 aus der Saarbrücker Gegend weg, ins totale Abseits, nämlich nach Merzig. Wie ein paar Bekannte meinten: „Oh, jetzt seid ihr aber weg vom Schuß! So abseits und jegliche kulturelle Zivilisation entbehrend.“ Dazu muss man wissen, dass Saarbrücken samt Einwohnern sich für den einzigen Ort im Saarland hält, wo kulturell etwas los ist. Dabei liegt genau gar nichts in der Nähe, was relativ interessant wäre. Das, was wirklich interessant ist, ist zum Beispiel die Philhamonie in Luxemburg, die für uns 40 Minuten weit entfernt ist. Dort haben wir schon das Chicago Symphony Orchestra unter Riccardo Muti gehört, Anne-Sophie Mutter oder Yuja Wang. Solche Musiker finden sich in St. Johann, Saarbrücken eher selten ein. Noch dazu sind wir genauso schnell in Saarbrücken, um dort die Radio Philharmonie zu genießen oder in Metz, wo sich das Arsénal als Konzertbühne wirklich lohnt. Und die Kings Singers kommen auch in unsere Stadthalle, wenn sie Lust haben. Das mit der kulturellen Einöde ist also vollkommener Mumpitz.
Wenn man irgendwo als Kirchenmusiker wohnt und selbst keine Stelle hat, kann man sich vertretungsweise in den umliegenden Kirchen ein bißchen verdingen. Zudem war ich als Organist ja nicht ganz unbekannt, so dass ich relativ schnell den einen oder anderen Kontakt knüpfen konnte. Ich spielte die eine oder andere Vertretung in Gottesdiensten, konnte hier und da bei Konzerten mitwirken und fand das in diesem Aufkommen ganz angenehm. Bis zum Tage X!
Irgendwann 2010 kündigte der Kollege, der zu diesem Zeitpunkt als hauptamtlicher Kantor an St. Lutwinus in Mettlach angestellt war. Am praktisch gleichen Tag rief mich der Pfarrer der Kirche an, verkündete die Neuigkeit und schlug mir vor, die Stelle nunmehr zu übernehmen. Dass es seit der Amtszeit dieses Pfarrers in nur 10 Jahren mindestens drei oder vier wechselnde Organisten gab, hätte einem zu denken geben können. Mettlach hatte aber eine recht beindruckende kirchenmusikalische Tradition, eine schöne Lage, direkt neben der Abtei in dem „touristisch interessanten“ Ort und die Orgel war frisch renoviert und hatte durchaus Potenzial. Außderdem war es für mich fahrtechnisch direkt um die Ecke.
Mit 49 Jahren doch noch einmal eine Festanstellung als Musiker zu bekommen, war zwar reizvoll aber gleichzeitig auch irgendwie abschreckend, eben nachdem, was ich in meinen 30 Berufsjahren zuvor so erlebt hatte. Dies alles hier zu erzählen, würde wirklich zu weit führen, aber zusammenfassend fand ich das Dasein als Kirchenmusiker wenig erhebend. Immerhin ist das meines Wissens der einzige Beruf, in dem man einen Dienstvorgesetzten hat, der einem zwar alles diktieren kann, gleichzeitig aber neben ganz viel Meinung nicht die geringste Ahnung von der fachlichen Materie hat, ein quasi gelebtes „Meinungsdiktat“ also, dem man sich als Angestellter ausliefert. Das bekam schon der alte Bach in Leipzig zu spüren, ist also nichts Neues und hat kirchlicherseits Tradition.
Kurz, mein erste Antwort war: „Nein, das möchte ich nicht!“ In der Folge machte uns Hr. Pfr. Schmitt mehrmals wöchentlich seine Aufwartung inklusive einer Aktentasche, in der er allerlei Material sowie einen Arbeitsvertrag zur Ansicht mit sich führte. Nach langem Hin und Her sagte ich dann doch zu, bewarb mich und bekam die Anstellung. Irgendwie dachte ich, es könnte noch eine Chance sein, quasi abschließend mit der Kirche noch ins Reine zu kommen. Meine liebe Frau hielt sich bei dem gesamten Thema und der Entscheidungsfindung seltsam bedeckt.
Die erste Zeit in Mettlach war außerordentlich anstrengend aber machte mir große Freude. Ich hatte drei Chöre zu leiten (Mettlach, Saarhölzbach und Tünsdorf), die Choralschola, eine Frauenschola und einen Kinderchor; dazu alle Organistendienste in Mettlach, Saarhölzbach, Tünsdorf, Nohn und Wehingen. Eine der zentralen Dienstaufgaben war die musikalische Organisation und Gestaltung der jährlich stattfindenden „Lutwinus-Wallfahrt“. Dazu gab es jede Menge von explizit gestalteten Gottesdiensten mit Gastchören und -musikern sowie des Abends fröhliches Zusammensein an den Ständen vor der Kirche bei einem gepflegten, traditionellen Lutwinus-Bier, das eigens von der Mettlacher Brauerei zuvor gebraut wurde.
Die Orgel in St. Lutwinus bot genug Substanz, um hochkarätige Orgelkonzerte anzubieten, was ich in den folgenden Jahren auch tat. Die Konzerte waren sehr erfolgreich und fanden insbesondere auch immer eine gute finanzielle Unterstützung seitens der Gewerbetreibenden in Mettlach, insbesondere von Villeroy & Boch. Mit Luitwin Gisbert von Boch-Galhau verstand ich mich, wie eigentlich mit der gesamten Familie, sehr gut. Es waren auch Mittel vorhanden, um bei ausgewählten Anlässen Orchestermessen auch mit Solisten aufzuführen. Insbesondere die Aufführung der „Messe Solenelle“ von Louis Vierne war für mich eines der erhebendsten Erlebnisse, die ich als Dirigent hatte.
In Zusammenhang mit der orgelbauerischen Pflege der Luwinus-Orgel konnte ich bereits 2011 den zuständigen Orgelbauer Bernhard Kutter nebst seines Sohnes Benjamin kennen lernen. Insbesondere zwischen Benjamin und mir entwickelte sich eine enge, tiefe Freundschaft. Abgesehen davon, dass er ein unfassbar liebenswürdiger Mensch ist, würde ich ihn in seinem Metier als waschechtes Genie bezeichnen. Seine Fachkenntnis, sein Geschmack, sein Wissen und seine Fähigkeiten sind außergewöhnlich! Bernhard Kutter hatte die Orgel in den Jahren zuvor in ganz hervorragender Weise renoviert und im Grunde erst zu einer wirklichen Perle gemacht. Die Orgelbau-Manufaktur Kutter mit Sitz in Friedrichroda, Thüringen, ist bis heute für die Orgel in Mettlach pflegerisch zuständig – Gott sei Dank. Damit ist das Instrument zumindest pflegetechnisch in den allerbesten Händen. Wie Sie in der Abteilung „Hauptwerk“ meiner Website lesen können, haben die beiden auch meinen eigenen Spieltisch für zuhause gebaut.
Etwas kurios für Benjamin Kutter ist, dass er zwar bei seinem Vater das Orgelbauhandwerk erlernt hat, er sich aber danach für einen anderen Beruf entschied. Erst eine spezielle Begebenheit hat ihn laut eigener Aussage wieder in den Orgelbau zurück gebracht. Und diese Sache war der Einbau einer historischen, englischen „Tuba Mirabilis“ des britischen Orgelbauers John Compton. Die „Tuba“ ist ein sehr spezielles Orgelregister, das mit erhöhtem Winddruck klingt und eine Solorolle in der vollen Orgel übernehmen kann; deshalb ist es gleichzeitig unglaublich rund und voluminös wie auch sehr laut.
Tuba Magna und Ecce Sacerdos
Es war mir damals gelungen, dieses Register in England zu finden, also eine Tuba, die zum Verkauf stand. Das war damals recht üblich, da das, was sich bei uns ankündigt, zu dieser Zeit in England bereits in vollem Gange war: viele Kirchen wurden stillgelegt, abgerissen, die Orgeln darin verkauft oder entsorgt. Ein einziges, insbesondere kulturelles Drama. Jedenfalls hatte ich die Tuba für den Ankauf zum Einbau in St. Lutwinus besorgen können, wie auch einige andere, sehr wertvolle englische Register für einen eventuellen, späteren Ausbau der Mettlacher Orgel.
In einer recht abenteuerlichen Aktion setzte sich so Anfang 2011 eine kleine Gruppe in Richtung England in Bewegung, um die Orgelregister dort abzuholen. Bernhard und Benjamin fuhren die Strecke mit einem LKW. Leider kam es während meiner Zeit in Mettlach nicht mehr zum Einbau der Register, die ich in England besorgen konnte. Nur eines haben wir geschafft: die Compton-Tuba wurde eingebaut! Nach einer Präsentation des Registers auf der Orgelempore von St. Lutwinus, erklärte sich Hr. Luitwin Gisbert von Boch dankenswerterweise bereit, den Löwenanteil der Kosten zu stiften. So kam die Mettlacher Lutwinus-Orgel dazu, als eine der ganz wenigen Orgeln in Deutschland eine Original-Compton-Tuba erklingen zu lassen. Eine Sache, über die ich noch heute dankbar bin, auch wenn ich die wunderbare Orgel seit mehr als 8 Jahren nicht mehr gespielt oder gehört habe.
Vor diesem Hintergrund irritiert es mich schon sehr, dass der jetzige C-Organist der Lutwinus-Kirche in seiner Vita schreibt: „Die Orgelrenovationen, Erweiterungen und klangliche Profilierungen der Instrumente in St. Lutwinus Mettlach und St. Nikolaus Mettlach-Orscholz waren seine Initiative und fanden unter seiner Betreuung [Anm.: Dennis Ernst] statt.“ Zu der eher wenig inspirierenden Orgel in Orscholz kann ich nichts beitragen, aber die Hauptrenovierung der Mettlacher Orgel fand vor meiner Zeit unter der Aufsicht eines meiner Vorgänger statt und die Tuba, die er in den höchsten Tönen lobt, habe realiter ich besorgt und den Einbau als auch die Intonation betreut. Die Tuba wurde während der Lutwinus-Wallfahrt 2012 eingeweiht, wofür ich eigens ein Stück für Orgel und Chor komponiert hatte, das die Tuba fachgerecht verwendet. Die fremden Lorbeeren, mit denen er sich nach meiner Ansicht schmückt, sind umso erschreckender, als dass er bei der Besorgungsaktion, als wir mit der größeren Gruppe inkl. Pfr. Schmitt in Liverpool waren, mit dabei war.
Anyway, wer sich mit fremden Federn schmücken muss, wird schon Gründe dafür haben. In diesem speziellen Fall könnte ich noch mehr anmerken, aber das liegt mir fern. Mir ist es nur wichtig, auf die Tatsache zu verweisen, dass eines der wesentlichsten Merkmale der Orgel in St. Lutwinus, Mettlach, meinem Einsatz dort zu verdanken ist – und natürlich der Hilfe derjenigen, die geholfen haben, das kostbare Stück wohlbehalten von Liverpool nach Mettlach zu transportieren und aufgebaut haben. Insbesondere gilt mein Dank Herrn Luitwin Gisbert von Boch, der das ganze Unterfangen finanziell ermöglicht hatte.
Das Stück, das ich damals zur Einweihung der neuen „Tuba Magna“ in Mettlach komponierte, hatte gleichzeitig eine spezielle Bedeutung. Zu Beginn der Wallfahrt werden jedesmal die Gebeine des Hl. Lutwinus, die außerhalb der Wallfahrtszeit im hinteren Teil des Hochaltares ruhen, für die Dauer der Wallfahrt vor dem Zelebrationsaltar ausgestellt, in Form des Schreins, der sie beinhaltet. Zu dieser Zeremonie wird der alte Choral „Ecce Sacerdos Magnus“ (Seht den Hohepriester) gesungen, ein im Ursprung gregorianischer Hymnus, der bei der Präsenz eines Bischofs vorgesehen war. Und genau diesen Text hatte ich für Chor und Orgel vertont, mit einem hohen Maß an Hingabe. Erstens konnte der Übertragung des Lutwinus-Schreins damit ein musikalisch-würdiger Rahmen gegeben werden und zweitens kam dabei die Tuba der Orgel zum Einsatz, die von ihrem Wesen her dem Anlass mehr als angemessen ist. Das Stück wurde drei Jahre lang zu diesem bestimmten Zeitpunkt unter meiner Leitung aufgeführt. Nachdem ich die Stelle nicht mehr hatte, wurde es durch ein anderes Stück ersetzt und wohl nie mehr aufgeführt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Noten sich noch im Fundus des Chorrepertoires befinden. Schade eigentlich, dass es an seinem Bestimmungsort nicht mehr aufgeführt wird.
Umso mehr freue ich mich, dass mein „Ecce Sacerdos“ wohl gut genug war, um 2015 die Nationale Amerikanische Bischofskonferenz in der Kathedrale von Saint Louis, Missouri, USA seitens des dortigen Kathedral-Chores zu eröffnen. Das Amt wurde auch live übertragen, weswegen es einen Mitschnitt davon gibt, den Sie sich hier ansehen, bzw. anhören können. Leider ist durch Störungen im Stream die Tonqualität eher bescheiden, aber man kann hören, worum es in der Musik geht. Das war zeitgleich auch die US-amerikanische Uraufführung meiner Komposition, für die ich dem damaligen Domkapellmeister Horst Buchholz und dem Domchor von Saint Louis herzlich danke.
„Ecce Sacerdos Magnus“
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Hinweis: Das, was Sie jetzt zu lesen bekommen, ist sehr intensiv persönlicher Natur. Ich beschreibe Dinge, die sich vor fast 10 Jahren zugetragen haben und die mein Leben verändert haben. Ich hätte derart persönliche Erlebnisse niemals zuvor in die Öffentlichkeit getragen, habe aber aktuell einen Anlass, es zu tun.
Wenn man ein gewisses Maß an Lebenserfahrung hat, weiß man, wie wichtig ein gesunder Abstand zu einer Sache ist. Ich denke, 10 Jahre Abstand sind genug, um Dinge in etwa beurteilen zu können, erst recht, wenn man genau weiß, dass man sich ganz anders verhalten würde, wenn sie später passiert wären. Heute würde die Situation zumindest von meiner Seite aus nicht mehr so weit gehen, wie es damals geschah.
Ich habe einen externen und einen internen Grund, die folgenden Zeilen zu schreiben. Der interne ist, dass ich das Bedürfnis habe, diese Phase meines Lebens endlich hinter mir zu lassen und zu verzeihen. Der externe Grund ist, dass ich immer wieder (auch 2023) noch Informationen bekomme, die beinhalten, dass aus Richtung der Pfarrgemeinde St. Lutwinus Mettlach „alternative Fakten“ über mich gestreut werden, die nicht der Wahrheit entsprechen; zum Beispiel, man sei damals im Streit auseinander gegangen, ich hätte gekündigt, man sei mit mir vor Gericht gewesen. Ich kann nicht sagen, wer diese Gerüchte verbreitet, es ist mir auch egal. Es ist mir jedoch nicht egal, wenn schlicht und ergreifend Unwahrheiten über mich verbreitet werden. Aus meiner Sicht und meiner Empfindung gab es keinen Streit.
Es ist für mich umso wichtiger, da ich mit meiner Frau noch immer in der Gegend lebe, sich das vermutlich nicht ändern wird und ich keine Lust habe, teilweise wie ein Straftäter behandelt zu werden, der angeblich ganz schlimme Dinge getan hat. Zudem verselbstständigen sich derartige Nachreden ja auch, oft völlig eigenständig.
Und letztlich finde ich, gehört das Ende einer Berufslaufbahn genauso zum Thema „Über mich“ wie die irrelevante Information, dass ich „zahlreiche Konzerte im In- und Ausland“ gegeben habe. Man kann nicht einfach 36 Jahre, in denen man zumindest geglaubt hat, im richtigen Beruf tätig zu sein, in die Tonne treten. Ein Schlusspunkt ist für mich so unabdingbar wie die Auflösung eines verminderten Sept-Nonen-Akkordes. (vgl. Bachs Toccata in d-moll, BWV 565)
Sie müssen das nicht lesen – Sie können, wenn Sie wollen.
Ite missa est!
Eigentlich war der Stellenantritt in Mettlach für mich ein letzter Versuch, dem Berufsleben bei der Kirche noch eine Chance zu geben und ich war in meiner Blauäugigkeit überzeugt, dass es eine gute Entscheidung war. Ich malte mir zumindest aus, dass, wenn ich meine Arbeit gut und gewissenhaft mache, eine reelle Chance zu haben, dort bis zu meiner Rente zu bleiben und wenn es gewünscht wäre, darüber hinaus im Ehrenamt.
Ehrlicherweise – das schicke ich voraus – muss ich leider zugeben, dass ich auch ohne die Vorkommnisse, die mich in Mettlach erwarteten, inzwischen nicht mehr bei der Kirche im Angestelltenverhältnis arbeiten würde; ehrenamtlich, das ja, wenn es darum geht, mit Musik die Herzen zu erheben, die Herzen derer, die nichts dafür können, was schief läuft.
Angesichts dessen, was inzwischen über kirchliche „Interna“ an die Öffentlichkeit getreten ist, zusammen genommen mit dem, was ich selbst persönlich oder in meinem Umkreis erlebt habe, hätte ich sehr wahrscheinlich nicht mehr das Vermögen, zu der Institution in „verwaltungstechnischer Hinsicht“ zu stehen und den Raum hinter den Kulissen auszublenden. Und dies bezieht sich nicht nur auf irgendwelche Kinderschänder, sondern auch auf ehrlose Kleriker, die vorgeben, das Wort Gottes zu vertreten und gleichzeitig vor keiner moralischen Fehlleistung zurück schrecken oder diese sogar noch in vollstem Bewusstsein aus freier Entscheidung heraus betreiben. Ich frage mich oft, wie diese Männer gewisse Absätze im Neuen Testament wohl auffassen; wäre ich an deren Stelle, käme mir bei einem Mindestmaß von Selbstreflexion die eine oder andere Frage auf.
Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung.
Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen?
Matthäus, 23, 27 & 33
Nobody is perfect – das wollen wir nicht außer acht lassen! Jede und jeder von uns macht Fehler, mal kleinere, mal größere. Manchmal wird man dafür bestraft, manchmal nicht. Vieles kommt auch nicht an die Öffentlichkeit und dann gilt zunächst „Wo kein Kläger, da kein Richter!“. Aber was wir als Kinder kirchlicherseits zu hören bekamen, war „Ein Auge ist, das alles sieht, und wenn’s in tiefster Nacht geschieht.“
Mich erschleicht schon sehr lange das Gefühl, dass viele Kirchenmänner das für sich selbst nicht in Anspruch nehmen. Das spielt aber keine Rolle, der Spruch findet seine Reflektion in dem Begriff „Karma“. Meine Frau bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „Das geht mit ihr oder ihm nach Hause.“ Und ich sehe es genauso, meine Lebenserfahrung hat mich eines gelehrt: wir alle werden zur Kasse gebeten, früher oder später, in diesem oder dem nächsten Leben. Davor schützt auch keine Priesterweihe – deswegen das obige Zitat aus dem Matthäus-Evangelium. Ich gehe dabei davon aus, dass Jesus sehr genau wusste, wovon er sprach. Es kann natürlich sein, dass meine Interpretation der Bibelstelle mit den Auslegungen der Dogmatiker nicht vereinbar ist und ich mich damit als Häretiker oute. Aber das können die Dogmatik-Spezialisten gerne unter sich ausmachen, mich ficht das nicht an.
Das waren meine seit Jahren immer wiederkehrenden Gedanken zum Einstieg, kommen wir zum Thema!
Im Grunde könnte ich die Erzählung bereits im Januar 2013 beginnen. Das tue ich aber nicht, weil ich davon ausgehe, dass man diese Dinge bestreiten würde und in einem durchaus möglichen Rechtsstreit würde ich mich auf Zeugenaussagen wegen einer seltsam intensiven Obrigkeitshörigkeit in der Gemeinde dort nicht verlassen können. Dass man im Ernstfall abstreitet, irgendwo dabei gewesen zu sein, halte ich für möglich. Deshalb beschränke ich mich auf diejenigen Details, die zweifelsfrei belegbar sind und im Ernstfall auch durch die vorhandene schriftliche Kommunikation dokumentiert sind. Die entsprechenden Schriftstücke liegen mir vor, ich kann sie jedoch leider hier nicht veröffentlichen, weil dies gegen das Briefgeheimnis verstossen würde, eine Zustimmung seitens der Pfarrverwaltung von Mettlach, diese zu veröffentlichen, werde ich sicher nicht erhalten. In einem Rechtsstreit könnten sie hingegen vorgelegt werden. Ich denke nicht, dass nach der langen Zeit noch ein Rechtsstreit relevant wäre, nur kann ich mit diesem Hinweis hinreichend darlegen, dass ich hier die Wahrheit schreibe und mir nichts aus den Fingern ziehe.
Die Dinge, die ich auslasse, sind dennoch geschehen und sie waren für meine Frau und mich gemeinsam teilweise unerträglich. Letztlich sind sie im Gesamtbild jedoch irrelevant, da das, was belegt werden kann, ausreichend ist, um die Dinge klar zu stellen.
Im Februar 2013 erlitt ich einen Unfall. Die Anfangsdiagnose waren zwei gebrochene Rippen, was es jedoch wirklich war, kam erst sehr viel später ans Licht. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus stellte sich auch nach Wochen keine Besserung ein, im Gegenteil, die Beschwerden wurden immer schlimmer. Die ärztlichen Prognosen besagten, dass man eine nicht verheilende Rippe nicht operieren kann und dass eine sogenannte Wanderrippe nichts so Besonderes wäre. Ich hatte immer stärkere Atembeschwerden, permanente, sehr starke Schmerzen und konnte mich kaum mehr bewegen, schon gar nicht sportlich. Da es nichts zu heilen gab, weil es nicht ging, verrichtete ich meinen Dienst in Mettlach eben unter diesen für mich sehr schlechten Bedingungen. Ich quälte mich durch das Jahr und hoffte, dass sich die Dinge noch bessern würden; ich hatte umsonst gehofft.
Wie sich später herausstellen sollte, litt ich unter einer sogenannten Rippenbogensprengung: es gab eine gebrochene Rippe, an deren Unterseite das Bindegewebe gerissen war, das Zwerchfell war gerissen wodurch die Trennung zwischen Ober -und Unterteil des Thorax nicht mehr gegeben war. Der Magendarmtrakt rutschte nach oben und stauchte die Lungenflügel zusammen, den linken auf die Hälfte, den rechten auf ein Drittel seines Volumens. Die Atmung konnte rein mechanisch kaum mehr funktionieren, weil das Zwerchfell sich kaum mehr bewegte und die Lunge sowieso nur in Restbeständen agieren konnte. In diesem Zustand bewältige ich meinen Dienst über das gesamte verbleibende Jahr und Dreiviertel des folgenden Jahres.
Im Herbst 2013 verstarben meine beiden Eltern, innerhalb von genau vier Wochen. Es kam einfach alles zusammen. Ich muss betonen, dass meine Chöre mich in diesen schlimmen Wochen sehr gestützt hatten. Für die beiden Sterbeämter meiner Eltern kamen sie per Bus nach Sulzbach und gestalteten die Feiern chormusikalisch sehr einfühlsam und für die Familienangehörigen sehr tröstend. Ich war meinen Leuten dafür sehr, sehr dankbar. Selbst Pfr. Schmitt kam mit und konzelebrierte die beiden Sterbemessen.
Als ich einem meiner liebsten Chorsänger, der inzwischen selbst verstorben ist, sagte, wie sehr ich mich über die Chöre gefreut habe, meinte er nur: „Herr Keller, das gebietet der Anstand, dass man in so einer Stunde bei seinem Chorleiter ist.“
Anfang des Jahres 2014 wusste ich mir kaum noch zu helfen und brachte erstmalig ins Gespräch, meine 100%-Anstellung zumindest zeitweise aufzuteilen, so, dass ich wenigstens in Teilzeit gehen konnte. Es war jedoch schwierig, eine entsprechende Kraft zu finden. Ein Kollege, der die nötige Qualifikation besaß, meldete sich bei mir, weil er an seiner damaligen Stelle sehr unzufrieden war. Er wusste, welche Hölle ich gerade durchmachte. Nach einigen Gesprächen kamen wir zu dem Schluß, uns wenigstens übergangsweise meine Stelle in Mettlach zu teilen. Ich empfand dies als gangbaren Weg, da die Gemeinde so nicht unter einer Teilzeitkraft leiden musste, die eventuell unterqualifiziert ist. Mir war es wichtig, das Niveau zu halten. Pfarrer und Verwaltungsrat waren damit einverstanden und wir konnten die Sache angehen.
Der Kollege kam von weit her, brachte sein gesamtes Hab und Gut mit und wohnte in den ersten 6 Wochen bei meiner Frau und mir in unserem Gästezimmer, als Gast versteht sich, kostenfrei. Ich konnte mein Glück nicht fassen, als ich in der 2. Jahreshälfte mit Prof. Dr. Schäfers an der Thorax-Chirurgie der Uni-Klinik Homburg einen Arzt fand, der sich zutraute, mein zerfetztes Inneres wieder zusammenzuflicken. Die Operation mit der Öffnung meines linken Oberkörpers von der Hüfte bis unter die linke Achsel fand im Oktober 2014 statt und ich wurde zuvor darauf hingewiesen, dass die Rekonvaleszenz eine beträchtliche Zeit in Anspruch nehmen würde, aber immerhin sollte danach alles wieder einigermaßen funktionieren. Der Operateur konnte nicht fassen, wie ich 18 Monate in diesem Zustand überleben konnte, und am Vorabend der Operation besuchten mich zahlreiche Chirurgen in meinem Zimmer und fragten, ob sie sich mich mal ansehen dürften. Mein Verletzungsbild traf die Frequenz von eins zu einer Million, gemessen an ihrem Auftreten. Immerhin war ich an dem Tag die Sensation in Homburg und die Operation selbst wurde von einigen ärztlichen „Gästen“ interessiert mitverfolgt. Daraufhin war ich zunächst bis zum Jahresende krank geschrieben und hoffte, zu Anfang Januar wieder auf der Matte stehen zu können.
Gedanken-Einschub
Bevor Sie weiterlesen, möchte ich gerne eine Überlegung meinerseits darstellen, die mir sehr wichtig ist: dass der Hr. Pfr. mich als Stelleninhaber nicht mehr haben wollte, dieser Eindruck wurde mir im Verlaufe des Jahres 2013 unmissverständlich vermittelt hatte. Leider kam es nie zu einem Gespräch oder einem Austausch in der Sache zwischen ihm und mir. Der Mann war in unserem Hause immer willkommen, wir haben für ihn gekocht und manchen angenehmen Abend mit ihm verbracht. Außerdem wusste er ganz genau, dass ich zu Beginn keinen Wert darauf legte, die Anstellung zu übernehmen und dies nur tat, weil er so stark insistierte.
Angenommen, er hätte mich zum Gespräch gebeten mit etwa folgendem Wortlaut: „Christoph, es tut mir leid, ich komme mit Dir persönlich nicht klar. Ich fühle mich unwohl in der Zusammenarbeit mit Dir.“ Oder auch: „Dein Orgelspiel ist grottenschlecht, von Chorleitung hast du keine Ahnung und alle hassen dich.“ Es wäre zwar schmerzhaft gewesen, aber ich hätte mich zurück gezogen, der Versuch wäre es wert gewesen. Man hätte auch nicht diskutieren müssen. Ich wäre sofort gegangen, zwar verletzt, aber zumindest hätte es ein Ende genommen.
Aus meiner Sicht kam ich mit den Chören und Ensembles sehr gut zurecht. Beispielsweise hat ein Mädchen aus meinem damaligen Kinderchor eine Gesangsausbildung gestartet, weil ich ihren Eltern riet, das Talent des Kindes zu fördern. Die Konzerte waren gut besucht, und es war alles in Ordnung. Ich fühlte mich auch berufen, dort zu arbeiten und mich einzubringen, ich hatte etwas zu geben.
Dennoch hätte ich mein persönliches Engagement zurück genommen, wenn man es mir nahe gelegt hätte.
Tatsächlich bin ich mir über meine Fähigkeiten als Musiker zwar gewahr, aber es muss nicht immer alles zusammen passen. Wenn die Chemie nicht stimmt, kann man das erörtern und die Misere mit allem gebotenen Anstand lösen. Eben deswegen habe ich nie verstanden, worum es hier eigentlich genau ging.
Faktisch war ich in den folgenden Monaten zuhause, da bis Anfang Januar krank geschrieben, um die zermürbende Operation zu verkraften. Während dieser Zeit übernahm mein Kollege, mit dem ich mir die Stelle teilte, dankenswerterweise alle Dienstverpflichtungen.
Meine Frau war während meiner ganzen Zeit als Kantor in Mettlach Mitglied im Kirchenchor Mettlach. Da der Sopran des Chores nur noch drei Mitglieder zählte, fand sie es wichtig, auch in der Zeit weiter mitzusingen und mitzuproben, in der ich selbst nicht arbeiten konnte. Dies tat sie bis zum Ende des Jahres 2014. Sie kam desöfteren von den Proben nachhause und war recht aufgelöst. Sie empfand subjektiv den Chorleitungsstil meines Vertreters für sie selbst nicht als optimal, um es etwas objektiv zu formulieren. Einerseits: meine Frau sang seit ihren Jugendtagen immer in Chören, auch in verschiedenen Ländern. Insofern traue ich ihr eine Urteilsfähigkeit an der Stelle durchaus zu. Andererseits: jeder Chorleiter dieser Welt weiß, dass man es niemals allen recht machen kann. Es ist nichts Besonderes, wenn einzelne oder mehrere Mitglieder eines Chores am Stil des Chorleiters oder der Chorleiterin etwas auszusetzen haben. Im Allgemeinen lassen Einzelmeinungen deshalb keine allgemeingültigen Rückschlüsse auf die Fähigkeiten eines Chorleiters zu. Erst, wenn der unglückliche Fall auftritt, dass ein Chor absolut geschlossen den Chorleiter nicht akzeptiert, liegt es nahe, darüber nachzudenken. Aus dieser Sicht heraus versuchte ich, meine Frau zu beschwichtigen, da ich ja ab Mitte Januar selbst wieder den Dienst übernehmen wollte.
Gleichzeitig bekam ich desöfteren Telefonanrufe verschiedener Chormitglieder mit dem Hinweis, dass ich mich bitte trotz Krankschreibung um die Zuständigkeiten an meiner Stelle kümmern solle. Da ich keinerlei Einblicke hatte, konnte ich mit diesen Hinweisen wenig oder nichts anfangen, versuchte aber meinen Vertretungskollegen diesbezüglich zu sprechen. Das gelang leider nicht.
In dieser Weise ging das Jahr zu Ende. In den letzten Dezembertagen stellte sich bei der Routineuntersuchung heraus, dass mein Heilungsprozess noch keine Rückkehr ins Arbeitsleben zuließ, ich wurde weiterhin krankgeschrieben. Selbst als ich meinem Arzt gegenüber insistierte, dass ich aus wichtigen Gründen wieder arbeiten müsse, lehnte er dies ab. Grundsätzlich hatte mein Arzt ja Recht, denn ich war noch immer sehr lädiert, auch wenn es mir deutlich besser ging als vor der Operation. Ich konnte wieder einigermaßen atmen und die Schmerzen gingen zurück.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland • Artikel 10
(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
Erklärender Beitrag bei Haufe: „Postgeheimnis, was ist erlaubt, was strafbar?“
Als klar war, dass ich zunächst nicht wieder in die Arbeit einsteige, hatte meine Frau keine Lust mehr, weiter an den Chorproben teilzunehmen und sich mit den dortigen Vorkommnissen zu belasten. Sie meldete sich deshalb bei meinem Vertreter per Email ab. Aus dem Wortlaut der Email konnte man durchaus ihre Frustration heraus lesen.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde diese Email niemals beantwortet. Hätte sich bei mir als Chorleiter ein Chormitglied auf diese Art gemeldet, hätte ich um ein klärendes Gespräch gebeten. Wie dem auch sei, mein Stellvertreter druckte die Email aus und ging damit – sozusagen postwendend – zu Hrn. Pfr. Schmitt, was ohne die Erlaubnis der Absenderin, zumindest soweit ich dies laut der Gesetzestexte verstehe, gegen das Postgeheimnis (s.o.) verstieß. Ihre Email war persönlich an meinen Vertreter gerichtet und unterlag dementsprechend dem Briefgeheimnis, noch weniger war sie dazu gedacht, öffentlich verlesen zu werden.
Der 22.1.2015, an dem die Email gesandt wurde, war ein Donnerstag, an dem regelmäßig die Proben des Mettlacher Chores stattfanden. Zu der Probe an diesem Abend erschien Hr. Pfr. Schmitt mit der ausgedruckten Email meiner Frau, um diese dort zu verlesen. Die begleitende Formulierung war dergestalt, dass die Chormitglieder glaubten, meine Frau hätte sich bei Hrn. Pfr. Schmitt über meinen Vertreter beschwert. Zu meinem Glück waren in dieser Probe einige Mitglieder anwesend, die die Sache so, wie der Pfarrer sie darstellte, hinterfragten. Dies war aus einigen Emails und Telefonaten in meine Richtung erkennbar. Wer meine Frau kennt, weiß, dass sie das so niemals getan hätte, sich über den Kollegen beim Dienstherrn zu beschweren – schon aus dem ihr eigenen Anstandsniveau heraus nicht. Sie hätte sich vielmehr über ein persönliches Gespräch mit dem Kollegen gefreut, womit sie durchaus hätte rechnen können.
Am 1. Februar erhielten sowohl meine Frau als auch ich jeweils einen Brief von Hrn. Pfr. Schmitt, indem er sich auf die Email meiner Frau an meinen Stellvertreter bezog und beschrieb, dass er den Inhalt dieser privaten Email zu meinen Ungunsten bereits genutzt hatte. Die Briefe waren gezeichnet von Widersprüchen und Unterstellungen, die weder Fakten entsprachen noch in irgendeiner wie auch immer gearteten Weise belegbar gewesen wären. Im Gegenteil: hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich dazu zu äußern, hätte ich sie widerlegen können.
Klar war nun damit, dass mein Vertreter die gesamte Chorarbeit auch nach meiner Rückkehr aus dem Krankenstand übernehmen sollte, während ich nur noch die übrig bleibenden Organistendienste in den umliegenden Gemeinden übernehmen sollte, was nicht nur mit einem erheblichen Verdienstausfall verbunden gewesen wäre, sondern insbesondere mit dem Wegfall des Sinnes meiner Tätigkeit an sich. Eine nebenamtliche Anstellung hätte ich auch in den Jahren davor niemals angenommen. Laut des Briefes waren in dazu nötige Beratungen auch der damalige Dekanatskantor sowie der Regionalkantor involviert.
Am 11. Februar 2015 erhielt ich postalisch einen Auflösungsvertrag zur Unterschrift. Ich habe diesen Vertrag natürlich nicht unterschrieben, sondern habe einen Anwalt für Arbeitsrecht konsultiert um in der Sache eine gewisse Rechtssicherheit zu haben.
Am 25. Februar 2015 erhielt ich eine Abmahnung, unterzeichnet von Pfr. Schmitt und einem Mitglied des Tünsdorfer Verwaltungsrates. Ich hätte nach Ablauf meiner letzten (Kranken)bescheinigung meinen Arbeitgeber über eine weitere Verlängerung in Kenntnis setzen müssen und unaufgefordert eine neue Krankmeldung vorlegen müssen. Das wäre jedoch nicht geschehen. Mit einer Fristsetzung zwei Tage später, zum 27.2.2015 hätte ich diese Bescheinigung nach zu reichen, andernfalls würde mein Arbeitsverhältnis gekündigt werden. Es wurde gleichfalls angekündigt, diese Abmahnung zu meiner Personalakte zu nehmen.
Tatsächlich hatte ich bereits am 18.02.2014 von meinem Arzt eine Folgebescheinigung erhalten, die ich sofort nach Erhalt sowohl bei der Krankenkasse eingereicht hatte als auch – mit Zeugen – bei meinem Arbeitgeber einwarf. Es wäre mir nicht eingefallen, meine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne extra aktivierte Zeugen bei meinem Arbeitgeber einzuwerfen, dazu waren die gesamten Umstände zu durchschaubar. Es kam noch erschwerend hinzu, dass es nicht den geringsten Grund gab, diese Bescheinigung dem Arbeitgeber vorzuenthalten, wenn man sie bei der Krankenkasse bereits eingereicht hatte, wo sie aktenkundig vorlag. Entsprechend war die Abmahnung faktisch haltlos. Wie von Zauberhand tauchte die abgemahnte Bescheinigung im Mettlacher Pfarrhaus dann wohl doch noch auf. Hinsichtlich der mit der Abmahnung getätigten, gegenstandslosen Beschuldigung und Drohung erfolgte weder eine Entschuldigung noch eine sonstige Stellungnahme.
Arbeitsrechtlich gesehen gab es für den mir zugesandten Auflösungsvertrag keine Handhabe, es sei denn, ich hätte ihn unterschrieben. Es brauchte dazu keine Gerichtsverhandlung oder einen sonstigen weiteren Rechtsweg.
Am 9. März 2015 erhielt ich per Post eine betriebsbedingte Kündigung zum 31. Juni des gleichen Jahres mit einer Freistellung vom Dienst nach meiner Krankheit und einer Abfindung in Höhe meiner Monatsgehälter bis zum Austrittstermin.
Kurze Zeit später wurde die Stelle vollumfänglich wieder ausgeschrieben, da mein Stellvertreter relativ schnell seine neue Stelle antreten konnte. Dieser Umstand verlieh der „betriebsbedingten Kündigung“ an mich einen besonderen Geschmack.
Zusammen gefasst lässt sich also feststellen, dass es über den Zeitraum von Januar 2013 bis März 2015 nicht möglich war, mir ein Fehlverhalten, mangelnden Diensteinsatz oder sonstige wie auch immer gearteten Minuspunkte nachzuweisen, die eine Kündigung gerechtfertigt hätten. Im Gegenteil, alle Chorauftritte und Konzerte gingen während dieser Zeit erfolgreich weiter. Ich dirigierte die Messe Solenelle von Vierne und die Spatzenmesse von Mozart mit Orchester und Solisten mit einem Drittel meiner Lunge und ohne jegliche Funktion meines Zwerchfells – nur mit Hilfe von Schmerzmitteln. Die inneren, organischen Verletzungen, die ich seit Februar 2013 in mir trug und die erst am 15. Oktober 2014 operativ behandelt wurden, sind aktenkundig und gehen aus dem OP-Bericht der Uni-Klinik Homburg hervor. Hierzu möchte ich anmerken, dass die Verletzung lebensbedrohlich war und es reines Glück war, dass die Operation noch rechtzeitig stattfand. Wenige Wochen später wäre ich laut ärztlicher Prognose den Folgen erlegen.
Vor diesem Hintergrund erlaubte ich es mir, auch wegen der Freude, dass ich die Sache überlebt hatte, am 28. Dezember 2014 von zuhause aus ein kleines Orgelstück von Bach aufzunehmen, das ich ins Internet stellte. Das mag man mir ankreiden können, dass ich trotz Krankschreibung hin und wieder weiter übte und spielte. Dabei ist es allerdings ein Unterschied, ob man 20 Monate lang mit der Verletzung alle Dienstpflichten inklusive mehrstündiger Proben mit Chor und Orchester wahrgenommen hat und dies kommentarlos hingenommen wurde oder ob man in der Genesungsphase, nachdem der Schaden behoben wurde, 20 Minuten zuhause am Instrument sitzt. Im Übrigen kann es sich ein professioneller Musiker nicht leisten, 5 Monate lang sein Instrument gar nicht anzurühren, egal, wie schlecht es ihm geht, besonders dann, wenn er dazu den Schutz der heimischen vier Wände nicht verlassen muss. Dazu möge sich jeder selbst ein Urteil bilden.
Zu keinem Zeitpunkt wurde ein Gespräch mit mir geführt, weder seitens des Pfarrers, noch seitens meines Stellvertreters und auch nicht seitens meiner Fachkollegen, die in die Angelegenheit involviert waren. Es wurde mir zwar alles mögliche unterstellt, es wurden Gerüchte in die Welt gesetzt aber es hat niemand mit mir geredet, ich konnte mich zu keinem der Vorwürfe verteidigen.
Keiner meiner direkten Vorgänger an St. Lutwinus blieb länger als 2-3 Jahre dort. Nachdem auch ich nicht mehr da war, gab es soweit ich weiß, niemanden mehr, der die Stelle noch hätte haben wollen. Und so ist sie dann von einer einstigen, hochkarätigen Stelle, für die die höchste Qualifikation, das A-Examen vorgesehen war, die auch alle meine Vorgänger hatten, am Ende zur C-Stelle degradiert.
So, wie ich es hier beschrieben habe, ist es geschehen, alles ist belegbar – auch wenn ich nie verstanden habe, worum es letztlich ging. Man hätte miteinander reden können und ich hätte mich verabschiedet; alle hätten ihr Gesicht gewahrt. So wurde die Sache zu einem weiteren traurigen Kapitel der vielen traurigen Kapitel, mit denen sich die Kirche von ihrem Auftrag nicht nur entfernt, sondern ihn verraten hat – nach meiner Ansicht, versteht sich.
Wer will, bilde sich sein eigenes Urteil, vielleicht lässt man es aber auch einfach; denn das Leben wird sich ohnehin um diejenigen kümmern.
Die Operation, die mir das Leben gerettet hatte, fand am 15. Oktober 2014 statt, am 13. Oktober spielte ich die letzte Messe – seitdem nie mehr. Ich habe meinen Beruf als Kirchenmusiker nach 36 Jahren beendet und habe ganz neu angefangen, mit einer Ausbildung zum Terminhändler an der Deutschen Börse – und das war gut so!
Vokalensemble Ton:art
Anfang 2017 wurde ich angefragt, die Leitung des Vokalensembles Ton:art in Schwemlingen zu übernehmen, was mich sehr geehrt hatte. Ich durfte mich in einem Probedirigieren vorstellen und zum 1. März 2017 begann die überaus erfreuliche Arbeit mit meinem neuen Chor.
Ton:art ist ein weltlicher, gemischter Chor, der aus dem ehemaligen Männergesangverein Schwemlingen hervorging. Dies geschah im allgemeinen gesellschaftlichen Wandel, als es für die Männerchöre schwierig wurde, neue Mitglieder zu gewinnen. Deshalb öffnete man den Chor für die Damenwelt, stellte ihn gemischt auf, definierte ihn vereinsmäßig als Untergruppe des vorherigen Gesangvereins und benannte ihn neu, eben in „Ton:art“.
Der Chor hatte mich direkt sehr angesprochen, weil es den Mitgliedern offensichtlich darum ging, kultivierte Chorarbeit zu betreiben und sich sowohl einzeln als auch als Chorensemble weiter zu entwickeln. Neben diesen für mich schon wichtigen Punkten gefiel mir besonders, dass der Chor ein eingetragener Verein ist, der sich selbst verwaltet. Er untersteht keiner Institution und entscheidet grundsätzlich selbst, wie er vorgeht; etwa, bei welchen Anlässen man auftritt und zu welchen Konditionen. Bei den Kirchenchören ist man eigentlich immer gezwungen, auf die feststehenden Termine hinzuarbeiten, die sich im Laufe des Jahres durchaus häufen können. In Mettlach hatten die Chöre durchaus mehr als 20 Auftritte pro Jahr. Das machte es oft schwer, neues Repertoire zu erarbeiten.
Mit unserem Vokalensemble entscheiden wir selbst, wann und wo wir auftreten und legen die Priorität mehr auf die gemeinsame Arbeit als auf die Auftritte, oder anders ausgedrückt: die Auftritte richten sich nach den Vorbereitungen und nicht umgekehrt. Hierdurch werden solche Konzerte möglich, wie wir es Anfang 2023 mit dem „Oratorio de Noël“ von Camille Saint-Saëns umsetzen konnten. Man setzt sich ein Ziel und wenn man soweit ist, setzt man das Ziel um. Dabei widmen wir uns Chormusik aller Stile und Epochen, weltlich wie geistlich.
Es gibt auch niemanden, der dazwischen funkt – wir bestimmen einfach alles selbst, wir sind unabhängig. Die Arbeit mit meinem Ton:art-Vokalensemble macht mir nach nun fast 7 Jahren, in denen ich der Chorleiter und inzwischen auch 2. Vorsitzende bin, große Freude, zumal wir in der Gruppe auch eine immer sehr angenehme Stimmung haben. Wir definieren uns mehr über Qualität als über Quantität.
Wenn Sie oben auf das Ton:art-Logo klicken, gelangen Sie zur Internet-Homepage von Ton:art.