Christoph Keller Multifunktionsmensch

Hauptwerk • Orgeln

Ein kleiner Abriss.

Kapitel 1 • Orgelbaukunst

Um die tiefere Sinnhaftigkeit von „Hauptwerk“ nachzuvollziehen, abseits der Freude am Spielen der Musik selbst, ist es aus meiner Sicht wichtig, zu verstehen, welches Feld die Orgel und die Orgelbaukunst eigentlich darstellen.

Die Orgel hat ihre Wurzeln als Musikinstrument bereits in der Antike, genauer gesagt im 3. Jahrhundert vor Christus. Bei uns in der Gegend, wo wir leben, existiert sogar ein römisches Mosaik aus dieser Zeit, das eine Orgel darstellt. Der zum Betreiben der Pfeifen nötige Wind, wie man diesen Luftstrom nennt, kam in der Antike noch über Wassersäulen, weshalb diese Orgeln auch Wasserorgeln genannt wurden. Insbesondere die alten Römer mochten die Orgel als profanes Instrument. Erst im 9. Jahrhundert n. Chr. fand die Orgel Einzug in die kirchlichen Räume Westeuropas. Die ältesten heute noch erhaltenen Instrumente stammen aus dem 15. Jahrhundert.

Natürlich kann man diese meist sehr kleinen Instrumente kaum mit dem vergleichen, was wir heute in teilweise gigantischer Gestalt als Orgel kennen. Und das ist der Punkt: wir blicken zurück auf die Entwicklung oder die Evolution eines Musikinstrumentes über den Zeitraum eines halben Jahrtausends. Der zeitliche Aspekt ist dabei nur ein Teilbereich, denn je nach den Ländern und Sitten, wo Orgeln gebaut und weiter entwickelt wurden, fanden sich jeweils ganz eigene Wege, die für große bauliche und stilistische Unterschiede in den Instrumenten sorgten.

Sonus Paradisi Brescia, St. Carlo
St. Carlo, Brescia, 16. Jahrhundert • © Sonus Paradisi
St. Maximin (Provence), erbaut von Jean-Esprit Isnard, 1775 • © Sonus Paradisi

Der Orgelbau in Deutschland entwickelte sich beispielsweise vollkommen anders als der in Frankreich oder Großbritannien. Dies hat zu teilweise sehr kuriosen Folgen geführt, die sich in vollkommen unterschiedlichen Konzepten niederschlugen. Höchst interessant ist beispielsweise, dass sich der deutsche und der französische Orgelbau sehr unterschiedlich ausgerichtet haben, bereits im Barock durch die Romantik im 19. Jahrhundert bis hin in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Erst in den 70er-, 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts fanden sich in Deutschland Orgelneubauten, die sich am französischen Typus orientierten, seltsamerweise aber kaum umgekehrt.

Und da der Ärmelkanal sehr viel Wasser führt, kochten auch die Engländer mit ihren Orgeln ihr eigenes Süppchen. Eine englische Orgel aus dem 19. Jahrhundert ist ganz anders als eine aus Frankreich oder Deutschland. Eine Sonderstellung nimmt der amerikanische Orgelbau ein, denn die Amerikaner taten das, was sie gewohnt waren, alleine aus ihren ethnischen Wurzeln heraus: sie nahmen sich jeweils das beste aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland und führten diese Elemente neu zusammen. Deswegen ist eine amerikanische Orgel häufig weitaus flexibler einzusetzen als eine aus den drei europäischen Ländern.

Während des Barockzeitalters unterschieden sich selbst die Orgeln in Norddeutschland von denen in Süddeutschland oder im Osten. Entsprechend bildeten sich sowohl national als auch regional diejenigen Orgelbauer als Ikonen aus, die in ihrer jeweiligen Disziplin entweder atemberaubende Leistungen erbrachten und/oder die Entwicklung der Instrumente nach vorne brachten. Diese Orgelbaukünstler gingen zurecht in die Geschichte ein und ihre Instrumente, die zumeist noch heute funktionieren und zugleich betörend schön klingen, sind ein kulturelles Vermächtnis, das einen unschätzbaren Wert darstellt. 

Ich will hier exemplarisch einige der wichtigsten Orgelbauer der jeweiligen Länder nennen; zum Weiterlesen ist jeder Name mit einem entsprechenden Wikipedia-Eintrag verlinkt und ich nenne wenigstens ein wesentliches Werk der jeweiligen Meister:

Deutschland:

Frankreich:

  • Dom Bédos (1709-1779) • Französischer Barock • Ste-Croix, Bordeaux
  • François-Henri Cliquot (1732-1790) • Französischer Barock • Cathédrale Saint-Louis, Versailles
  • Jean-Esprit Isnard (1707-1781) • Französischer Barock • Ste-Marie- Madeleine, Saint-Maximin-la-Sainte-Baume
  • Aristide Cavailé-Coll (1811-1899) • Französische Romantik • St-Sulpice, Paris

England:

USA:

  • Earnest Martin Skinner (1866-1960) • Amerikanischer Eklektizismus • Washington National Cathedral (Aeolian-Skinner)