Christoph Keller Multifunktionsmensch

Hauptwerk • Orgeln

Ein kleiner Abriss.

Kapitel 2 • Orgelkunst

Wenn all diese begabten, teilweise genialen Menschen so wunderschöne Instrumente gebaut haben, finden diese jedoch erst dann ihren wahren Nutzen, wenn es auch Musik gibt, die man darauf spielen kann. Und diese Musik musste komponiert werden, natürlich von den Musikern, die sich in umittelbarer Nähe der jeweiligen Orgeln aufhielten. Das führte dazu, dass sich die zu komponierende Musik natürlich nach den Möglichkeiten der Instrumente richtete, sowohl in klanglicher wie auch in technischer Hinsicht. Einen Pedalton zu komponieren für ein Pedal, das es nicht gibt, wäre jedenfalls sinnfrei gewesen.

Bach Schübler
Faksimile: J. S. Bach - 6. Schübler-Choral
Max Reger

Da die Orgeln von Region zu Region unterschiedlich klangen und konstruiert waren, entwickelte sich parallel dazu die Musik ebenso lokalorientiert und divergent. Dies ging sogar soweit, dass es in der Barockzeit gar nicht möglich gewesen wäre, ein großes Präludium von J.S. Bach auf einer Cliquot-Orgel in Frankreich zu spielen, da der Tonumfang im Pedal nicht ausgereicht hätte. Umgekehrt war eine Suite von Clérambault nicht in ihrer gewollten klanglichen Wirkung auf der Orgel darstellbar, die Bach seinerseits in Arnstadt zur Verfügung stand.

Diese regionalen Eigenheiten entwickelten sich seit der Barockzeit bis in die Romantik weiter, wobei keinerlei Annäherung stattfand. Im Gegenteil, während in Deutschland die romantischen Orgeln mit einer möglichst stufenlosen Dynamik ausgestattet wurden, differenzierte man in Frankreich in ganzen Werkgruppen, die der Terassendynamik des Barock näherstanden als der orchestralen Dynamik der Romantik. Überhaupt stellt man fest, dass eine „neuere“ romantische Orgel in Frankreich in manchen Pfeifentypen erstaunlich nah im barocken Klang verblieben ist. Die Zungen zum Beispiel klingen in einer Orgel von Dom Bedos recht ähnlich denen eines Cavaillé-Coll und sie sind eben genau die „Zutat“, die im vollen Klang der französischen Orgel den Charakter bestimmt. In Deutschland hingegen konnte Max Reger gar nicht genug dynamische Zeichen in seine Werke eintragen, was aber auch kein Problem war, da eine typisch romantische, deutsche Orgel dynamisch wesentlich feiner abzustufen war als eine französische.
Versuche, ein großes Werk von Reger auf einer Cavailé-Coll-Orgel zu spielen, sind im Sinne des Werkes nicht besonders aussichtsreich. Und eine Vierne-Symphonie klingt eben in der Nicolai-Kirche in Leipzig nicht so wie in Notre Dame de Paris.

Dabei sind es viel mehr Parameter als nur der Klang, was die Unterschiede ausmacht. Es sind auch die technischen Möglichkeiten, mit der Vielzahl von Orgelpfeifen während des Spiels umzugehen. Selbst an dieser Stelle bestehen gravierende nationale Unterschiede. Auf einer romantischen französischen Orgel vermag ein Organist im allgemeinen, seine Registrierungen (Klangänderungen), ganz so, wie sie in den Noten stehen, praktisch alleine umzusetzen, da die gewollten Änderungen in 98,7% der Fälle über wenige Fußpistons abzurufen sind. Das gleiche Stück auf einer deutschen Orgel aus derselben Periode erfordert zumindest einen, wenn nicht zwei Assistenten.

Wie dem auch sei, bei allen technischen Differenzen und Schwierigkeiten, die sich bei einem für die jeweilige Komposition ungeeigneten Stück ergeben, ist es am Ende dennoch der Klang, den der Komponist zu verwirklichen suchte. Wenn dieser Klang in einer Aufführung 180° von der Idee des Komponisten abweicht, erscheint die gesamte Performance fragwürdig. Es kommt schließlich auch niemand auf die Idee, das dritte Klavierkonzert von Rachmaninoff mit einem Blockflötenquartett zu spielen.

Damit kommen wir zum Begriff der „Werktreue“.

Als ich im Schüleralter meine ersten Gehversuche an der Orgel machte, standen mir naturgemäß nur die Orgeln zur Verfügung, die in den Kirchen meiner Umgebung standen. Um ehrlich zu sein, eine war grauenhafter als die andere. Von Werktreue konnte keine Rede sein, da in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Art kultureller Irrglaube namens „Orgelbewegung“ nicht nur zur teilweisen Zerstörung wertvoller historischer Instrumente führte, sondern auch Orgelneubauten mit einem Klang versah, der irgendwo zwischen näselndem Nichts und Luftzischen angesiedelt war. Von klanglicher Erbauung konnte keine Rede sein. Was es genau damit auf sich hat, zu erklären, würde hier nun den Rahmen sprengen. Tatsache ist jedenfalls, dass kein einziges Stück, das ich damals übte, auch nur ansatzweise mit dem Klangideal des Komponisten darstellbar war. Die frustrierende Phase fand ihr Ende, als ich über mein Studium an der Musikhochschule erstmals mit der einen oder anderen Orgel in Kontakt kam, die eben wirklich und wahrhaftig authentisch war; viele waren es dennoch nicht. Aber als uns bei einem Studienausflug nach Paris Maître Jean Langlais seine „Incantation“ auf seiner Orgel in Ste-Clotilde vorspielte, verstand ich erstmalig, was es heißt, ein Orgelwerk auf der Orgel zu hören, für die es komponiert wurde.  

André Luy Jean Langlais Christoph Keller
Jean Langlais, mein Professor André Luy und ich 1987 in Paris • © Christoph Keller

Heute erstreckt sich mein Repertoire auf der Orgel über nahezu alle Epochen und nationale Besonderheiten. Ich spiele für mein Leben gern die großen Werke eines Louis Vierne oder Maurice Duruflé, den gesamten Bach und Franck sowieso und vor allem alles, was irgendwie mit den Angelsachsen zu tun hat. Das Problem dabei war jedoch immer, dass aber auch wirklich nie die Orgel zur Verfügung stand, die ich für das jeweilige Werk gebraucht hätte, denn ich bin ein Verfechter werkgetreuer Aufführungen, zumindest im Rahmen dessen, was nach einschlägigen Quellen oder offenliegenden Fakten als Maßgabe verfügbar ist.

Und genau diese Lücke, die mein Leben lang bestand, hat die wunderbare Computer-Software namens „Hauptwerk“ mit dem gesamten technischen Aufwand drum herum geschlossen. Es war mir nie möglich, mal eben nach Notre Dame zu fahren, um Vierne zu spielen, nach Arnstadt, um Bach zu spielen, nach St-Maximin, um Couperin zu spielen und nach Bournemouth um Percy Whitlock zu spielen. Mit Hauptwerk liegt die passende Orgel genau eine Festplatten-Ladung weit entfernt; zwar nicht wirklich real physisch, aber zumindest klanglich derart präsent, dass ich beim Spielen das Gefühl habe, ich würde erstens die Orgel wirklich spielen und zweitens das Werk, das ich gerade spiele, so darstellen zu können, wie es vom Komponisten gewollt war.